Jüdische Strasse in Mecklenburg-Vorpommern

Zum historischen Kontext der Lebensgeschichten vor 1933

Die hier versammelten Lebensgeschichten wollen jüdisches Leben in Mecklenburg und Vorpommern vor 1933 zum Sprechen bringen. Den Ansporn hierzu bot der Projektgruppe ein Besuch in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem: Die beeindruckende Begegnung mit Zeugnissen der Vielfalt jüdischen Lebens in Europa bis zu seiner weitreichenden Auslöschung durch den nationalsozialistischen Völkermord ließ den Wunsch keimen, Lernenden auch in der eigenen Region einen Blick auf die Normalität jüdischen Lebens vor der NS-Zeit zu eröffnen. Doch war dieses Vorhaben angesichts der geschichtlichen Entwicklung in Mecklenburg und Vorpommern von Beginn an von einer Sorge begleitet: Könnten Antisemiten ihre Klischees bestätigt sehen, wenn sie auf die hier versammelten Biografien von Kaufleuten, Gewerbetreibenden, Fabrikbesitzern und ihren Familien schauen? Hätte der Blick nicht leicht über die Grenzen des heutigen Bundeslandes hinaus geweitet werden können auf die nächsten Großstädte, um ganz andere jüdische Gruppen hervortreten zu lassen – Hamburgs sefardische Juden etwa, oder die ganz unterschiedlichen jüdischen Milieus, die seit dem 19. Jahrhundert in der Weltmetropole Berlin entstanden? Die Entscheidung fiel anders. Der Blick sollte auf der Region verweilen, und damit galt, was stets gilt, wenn die Geschichte des Nahraums beleuchtet werden soll: Es muss deutlich werden, wo sich allgemeine Entwicklungen in ihm spiegeln, es muss aber ebenso klar hervortreten, wo eigene Wege genommen werden.

Dies gilt insbesondere für Mecklenburg und Vorpommern, wo die jahrhundertealte Geschichte der Benachteiligungen und Verfolgungen von Juden in mancherlei Hinsicht noch deutlicher zu greifen ist als anderswo in Deutschland und Europa. Bestes Beispiel dafür ist der Blick auf die mittelalterliche Entwicklung. Im 13. Jahrhundert entstanden zwischen Elbe, Oder und Ostsee Städte mit deutschsprachiger Bevölkerung. Mit der Stadtkultur kam die Schrift in die Region, und schon in den frühen städtischen Schriftzeugnissen werden auch Juden erstmals greifbar (unter anderem 1266 in Wismar oder 1282 in Stralsund). Sogleich erweisen sie sich nicht nur als religiös, sondern auch rechtlich und sozial abgesonderte Gruppe, die hier wie überall im europäischen Mittelalter die allfälligen Benachteiligungen, Ausgrenzungen, Berufsverbote und Kennzeichnungspflichten zu erdulden hatte. Ein markantes Ereignis steigert diese allgemeine, bis hin zu Verfolgung und Vernichtung reichende Tendenz in der hier betrachteten Region ins Extreme: 1492 kam es infolge eines angeblichen Hostienfrevels im mecklenburgischen Sternberg zu einem Schauprozess. Im Anschluss an ein blutiges Strafgericht wurden alle Juden aus Mecklenburg vertrieben, das Land blieb ihnen bald zwei Jahrhunderte verschlossen und wurde auch bewusst von ihnen gemieden.

Erst nach den Wirren des 30jährigen Krieges wurden einige wenige jüdische Familien als Finanzexperten nach Mecklenburg gerufen. Weitere stießen im 18. Jahrhundert hinzu, als viele protestantische Fürsten wegen ihrer Religion verfolgten oder diskriminierten Gruppen Schutz
gewährten, wenn denn die Aussicht bestand, dass die Aufnahme wirtschaftliche Vorteile mit sich brachte. Dies eröffnete einigen wenigen Juden die Chance auf ein dauerhaftes Bleiberecht, selbst wenn sie in ihrer Freizügigkeit eingeschränkt, abgabepflichtig und eng an den Schutz der Landesherren gebunden blieben. Bemerkenswert ist etwa die Ansiedlung von Juden in Alt-Strelitz, wo sich ab 1704 eine größere Gemeinde bilden und 1763 eine Synagoge geweiht werden konnte. Hinzu kam eine Handvoll jüdischer Jahrmarkthändler, denen aber landauf, landab nur ein zeitweiliger Aufenthalt gestattet war. Besonders die Handelsstädte an der Küste sahen selbst in dieser geringen Präsenz jüdischer Handelsleute eine unangenehme Konkurrenz und verwahrten sich durchweg am stärksten gegen einen Zuzug – eine Haltung, die in Städten wie Rostock oder Wismar bis weit ins 19. Jahrhundert hinein zu greifen ist.

Auch in Schwedisch-Pommern hatten Juden nach dem 30jährigen Krieg kaum eine Chance zur Entfaltung wirtschaftlicher Aktivitäten, geschweige denn der Ansiedlung. Etwas bessere Verhältnisse fanden Juden in den brandenburgischen Teilen Pommerns vor, wo sie von der Gnade der hohenzollerschen Landesherren profitierten, die einer Zuwanderung etwas stärker zugetan waren und in Maßen Toleranz übten.
Vielerorts in Europa gab es im Zuge der Aufklärung und der politischen Wandlungsprozesse an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert Vorstöße zu einer Emanzipation der Juden, also zur Aufhebung der rechtlichen Sonderstellung und bedrückenden Regeln. Mecklenburg indes erwarb sich im 19. Jahrhundert den zweifelhaften Ruf, zum Hort der Rückständigkeit, ja der „Reaktion“ geworden zu sein. Dies betraf die überkommene und über die Reichsgründung 1871 noch hinweggerettete ständische Verfassung, spiegelte sich aber insbesondere in der Judenpolitik. Weiterhin galt im Kern der Landesgrundgesetzliche Erbvergleich von 1755 mit seinen diskriminierenden Bestimmungen. Vorstöße, die Benachteiligungen abzuschaffen, endeten mehrfach in Rückschlägen. Die Landesherrliche Konstitution in Mecklenburg-Schwerin 1813 sollte den Juden allgemeine Bürgerrechte verleihen – sie wurde 1817 kassiert. Auch die in der Revolutionszeit 1848/1849 erlassenen Regelungen hatten keinen Bestand. Die allgemeine Freizügigkeit der jüdischen Bevölkerung wurde hier nicht vor 1869/1871 im Zuge der Reichseinigung errungen, und erst damit konnten Juden auch in die wohlhabenden Küstenstädte ziehen. Zu einer völligen rechtlichen Gleichstellung jüdischer Bürger kam es überhaupt erst mit der Etablierung der Weimarer Republik 1918/19.

Wenig besser sah es in Pommern aus. Zwar hatte das im Zuge der Preußischen Reformen erlassene Emanzipationsedikt von 1812 Juden weitreichende Gleichstellung zugesichert, aber auch dies wurde in der folgenden Zeit der Restauration nach und nach zurückgenommen. Gerade die vormals schwedischen Landstriche beriefen sich mit Erfolg auf alte Rechte; am hartnäckigsten wehrten sich die großen Handelsstädte – in diesem Fall Stralsund oder Greifswald – gegen einen Zuzug von Juden und damit von unliebsamer Konkurrenz. Die schwierigen Rahmenbedingungen erklären für Mecklenburg und (Vor-)Pommern den verhältnismäßig späten und auf wenige Sozialgruppen beschränkten Zuzug von Juden. Dabei handelte es sich zumeist nur um wenige Hundert Menschen, deren Zahl zudem stark schwankte – im
gesamten Regierungsbezirk Stralsund waren es 1852 beispielsweise gerade einmal 210 Personen. Neben Zuwanderungen gab es auch Abwanderungen (vor allem von kleineren in größere Städte). Doch trotz aller Rückschläge vollzog sich auch in dieser Region ein Wandel, der zu einer Verbesserung der Lebensumstände von Juden führte. In Mecklenburg-Schwerin gelang es 1839/40, eine landesherrlich bestätigte Landesgemeinde mit einem Landesrabbiner ins Leben zu rufen. Zunehmend bestand auch die Möglichkeit, Synagogen zu bauen. Hervorzuheben ist überdies die weitere kulturelle Entfaltung, die mit der Haskalah eine eigene Spielart der Aufklärung ausbildete. Während manche Juden versuchten, sich den Gewohnheiten der christlichen Mehrheitsbevölkerung anzupassen, wählten andere den Weg einer besonderen Betonung jüdischer Identität. Insgesamt ist das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts aber als Phase einer schrittweisen Eingliederung der jüdischen Bevölkerung in das gesellschaftliche Leben der christlichen Mehrheitsgesellschaft zu betrachten.

Der Einigungsprozess und die Reichsgründung 1871 eröffneten Juden wie allen anderen Bürgern die freie Wahl von Wohnort und Gewerbe. Nun konnten sich auch Städte wie Rostock nicht mehr einem Zuzug verschließen. In der Folge entwickelte sich in Mecklenburg und Pommern bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine zahlenmäßig bescheidene jüdische Bevölkerung, die rechtlich (fast) gleichgestellt war, sozial meist dem Bürgertum angehörte und in der Tradition der Modernisierung stand.

Viele fanden ihr Auskommen als Händler in Stoff, Leder oder Textilien, als Gewerbetreibende oder als Angestellte, während kaum einer eine Betätigung im lange verschlossenen agrarischen Sektor aufnahm. Zu diesen Gruppen gesellten sich nach dem Ersten Weltkrieg einige sogenannte „Ostjuden“ – ein schwieriger Begriff, der meist die Nachkommen jener meint, die einst aus dem mittelalterlichen Reich nach Polen geflüchtet waren. Sie hatten sich nach der Aufteilung Polens im 18. Jahrhundert in prekären Verhältnissen wiedergefunden. Vielfach verarmt und verfolgt, suchten sie unter anderem in Deutschland eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Da sie die Entwicklungen der deutschen Juden nicht mitvollzogen hatten, erschienen sie als rückständig und wurden zum bevorzugten Zielpunkt antisemitischer Zerrbilder. Die erst in der Weimarer Republik hinzukommenden Gruppen unterlagen zudem als nur Geduldete einem unsicheren Aufenthaltsstatus.

Mit dem hier erstmals aufscheinenden Begriff „Antisemitismus“ ist auf eine unheilvolle Entwicklung hinzuweisen, die sich im 19. Jahrhundert parallel zur zunehmenden rechtlichen und sozialen Gleichstellung wie auch zur Assimilation vollzog. Zwar war in der christlichen Mehrheitsbevölkerung schon vorher eine Judenfeindschaft verbreitet, die auf jahrhundertealte kulturelle Vorurteile und religiöse Vorbehalte aufbauen konnte. Doch gewann sie nun ausgerechnet in jener Phase eine neue Qualität, als Juden ein hohes Maß an gesellschaftlicher Teilhabe für sich geltend machen konnten. Neu war dabei ein biologistischer Gedanke, der die Vorstellung einer primär religiösen Eigenständigkeit sozialdarwinistisch auf das „Rassische“ ausdehnte, also von einer gruppenspezifischen Weitergabe negativer Eigenschaften durch Vererbung ausging. Dabei war es unerheblich, ob Juden in einer Region besonders präsent oder wie in Mecklenburg und Vorpommern nur eine verschwindend kleine Minderheit waren. An der Ostseeküste ist der in der Kaiserzeit aufkeimende „Bäderantisemitismus“ eine besonders tückische Spielart dieser Denkweise. Ganze Seebäder wie Bansin oder Zinnowitz erklärten Juden für unerwünscht und boten damit einen Vorgeschmack auf Kommendes.

Der Antisemitismus durchkreuzte alle Fortschritte und sorgte für Ungleichzeitigkeiten, die sich im zweiten und dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts am deutlichsten zeigen. Auf der einen Seite waren sich selbst integriert wähnende Juden mit einer gehörigen Portion Nationalstolz in den Ersten Weltkrieg gezogen und hatten vielfach Leben und Gesundheit gegeben. Die Weimarer Republik hatte ihnen die vollständige rechtliche Gleichstellung gebracht. Auf der anderen Seite feierte der Antisemitismus Urstände und mit ihm die Verschwörungstheorien, die Juden zu Sündenböcken und verantwortlich für die Kriegsniederlage, die wirtschaftliche Misere und alles erdenkliche Unglück machten. Trotz der Gleichstellung hatten Juden auch in Mecklenburg und Vorpommern in der Zeit der Weimarer Republik mit diesem unterschwelligen bis unverhohlen offenen Antisemitismus zu kämpfen. Dieser zeigte sich in vielerlei Gestalt, trat aber in Mecklenburg und Vorpommern vor allem im fortgesetzten Seebäderantisemitismus hervor (Swinemünde 1920, Hiddensee, Usedom). Er gedieh aber auch in akademischen Milieus, etwa indem jüdischen Studenten der Beitritt zu Verbindungen verwehrt wurde oder jüdische Gelehrte
sich Verleumdungskampagnen ausgesetzt sahen. Greifbar wird dies besonders an der Universität Greifswald, wo der Nationalsozialist und glühende Antisemit Karl Theodor Vahlen 1923 Rektor wurde.

Die mörderische Politik des nationalsozialistischen Regimes gegenüber den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger kam also nicht aus dem Nichts und vollzog sich nicht abseits der Bevölkerung – auch nicht in Mecklenburg und Vorpommern. Die Juden hier teilten nach 1933 das
Schicksal aller Juden im Deutschen Reich: Sie durchlebten ab 1933 Entrechtung und Enteignung, durchlitten die Verschärfung der Situation 1938/1939 und teilten mit Beginn des Zweiten Weltkriegs den Weg in den Völkermord. Die hier versammelten Lebensschicksale können dies verdeutlichen: Wer nicht vorher hatte fliehen können, sah sich der unbarmherzigen Abfolge der Ghettoisierung in „Judenhäusern“, der Deportation in den Osten und der Vernichtung durch Sklavenarbeit, Hunger, Erschießung oder Vergasung ausgeliefert. Ein weiteres Mal war jüdisches Leben in Mecklenburg und Vorpommern fast vollständig ausgelöscht, und erst mit der Wiedervereinigung und dem Zuzug russischstämmiger Juden konnte ein neues Kapitel des Zusammenlebens aufgeschlagen werden.

Quellennachweise

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